Immer am Limit

Anna Schaffelhuber ist querschnittsgelähmt. Das hindert sie aber nicht daran, weit über ihre körperlichen Grenzen hinauszugehen. Und als mehrfache Paralympics-Siegerin und Weltmeisterin schneller Ski zu fahren als die allermeisten von uns. Direkt erlebbar bei der Vor­bereitung auf die Paralympics in Pyeongchang an einem Wettkampftag in Kühtai.

Die Berge leuchten blau in der Morgendämmerung. Der kleine Tiroler Ort Kühtai auf gut 2.000 Meter Höhe erwacht gerade. Es ist die Ruhe vor dem Sturm an diesem Dezembertag um 7:30 Uhr. Neben ersten Ski-Touristen macht sich auch eine junge Frau auf einem blauen Monoskibob bereit. Anna Schaffelhuber ist derzeit die erfolgreichste Para-Skifahrerin der Welt und das Gesicht des deutschen Behindertensports. Sie gewann insgesamt sieben Goldmedaillen bei den Paralympics im russischen Sotchi und in Pyeongchang in Südkorea, neun Titel bei Weltmeisterschaften sowie sechsmal den Gesamtweltcup.

Nach dem Rennen ist vor dem Rennen: Anna Schaffelhuber nimmt sich Zeit für ein Interview, ehe sie mit dem Techniker noch den Wettkampf am nächsten Tag bespricht.

Die 25 Jahre alte gebürtige Regensburgerin fährt flotte, sehr flotte Kurven an diesem Morgen. Dabei ist das nur das Aufwärmprogramm. In Kühtai veranstaltet das Internationale Paralympische Komitee in der Woche vor Weihnachten einen alpinen Ski-Weltcup. Zwei Riesen­slaloms und zwei Slaloms stehen auf dem Programm. Anna Schaffelhuber gehört zum Favoritenkreis. Sie hat bereits mit fünf ­Jahren das Ski­fahren entdeckt – das ­Skifahren im Monoskibob. Die Behindertensportlerin ist mit einer inkompletten Querschnittlähmung auf die Welt gekommen und konnte sich dank Restfunktionen zunächst mit Krücken fortbewegen, aber ein Rollstuhl gehörte schon früh zu ihrem Alltag.

Anna war bald genauso schnell

Als die beiden Brüder mit dem Skifahren begannen, wollte Anna ebenfalls dabei sein im Schnee. Ihr Vater hatte von einem Monoskibob-Kurs gelesen, den die frühere Paralympic-Siegerin Gerda Pamler im Kaunertal veranstaltete, und meldete seine Tochter an. Anna Schaffelhuber gefiel der Sport auf Anhieb. „Sobald ich auf dem Monoskibob sitze, fühle ich mich frei“, sagt sie. Während die Brüder und Eltern im gemeinsamen Urlaub fortan auf zwei Skier die Pisten hinuntersausten, nahm Anna den Skibob und war bald genauso schnell wie der Rest der Familie. Mit 14 überredete Gerda Pamler die Jugendliche, bei einem Sichtungslehrgang des Deutschen Para-Skiteams mitzumachen: „Da habe ich festgestellt, dass ich im Vergleich mit den anderen gar nicht so langsam war.“ Anna Schaffelhuber kam in den Leistungskader, startete drei Jahre später bei den Paralympics 2010 in Vancouver und gewann Bronze im Super-G.

Eine Stunde nach den morgendlichen Aufwärmfahrten fährt Anna Schaffelhuber wieder mit dem Lift auf den Berg. Der erste Durchgang des ersten Riesenslaloms steht an. Sie beendet den Weltcup-Auftakt als Dritte. Am nächsten Tag scheidet sie nach einem Fahrfehler im ­ersten Durchgang des zweiten Riesenslaloms aus. „Mit dem vereisten Schnee“, sagt Anna Schaffelhuber, „kam ich dieses Mal nicht zurecht“. In den beiden Slaloms läuft es besser, sie wird einmal Zweite und beendet den Para-Weltcup im letzten Wettbewerb mit einem Sieg.

anna schaffelhuber

Monoskibob-Sportlerin

Geburtsort
Regensburg
Geburtsdatum
26. Januar 1993
Beruf
Lehramts-Studentin
Behinderung
Querschnittslähmung
Größe
150 cm
Auszeichnung
2016 Behindertensportler des Jahres
Sotchi 2014
Bei fünf Starts fünf Goldmedaillen
Pyeongchang 2018
Erfolgreichste alpine Rennläuferin mit zwei Gold- und einer Silbermedaille

Suche nach neuen Herausforderungen

Die Ansprüche von Anna Schaffelhuber sind hoch. Nach ihrem Triumph bei den Paralympics 2014 in Sotschi, als sie in allen fünf Wettbewerben, also Slalom, Riesenslalom, Super-G und Abfahrt sowie in der Kombination, Gold gewonnen hatte, fiel es ihr zunächst schwer, sich neu zu motivieren. „Ich dachte mir: Und was kommt jetzt?“ Es fehlten die Herausforderung – und die Herausforderer. „Wenn du ein Jäger bist, hast du immer ein Gesicht vor Augen. Und dann ist es auf einmal dein Gesicht, gegen das du fährst.“ Aufhören wollte sie mit 21 aber nicht, zumal sie ein Lehramts-Studium für die nächsten vier Jahre vorgeplant hatte. Deshalb setzte sie sich neue Ziele. Abfahrts-Gold bei einer Weltmeisterschaft fehlte noch in der Sammlung. Und als dies auch geschafft war, begann schon die Vorbereitung auf die nächsten Paralympics. In Pyeongchang, wohin sie die Eltern und der Freund begleitet hatten, hat sie bestätigt, „dass mein Erfolg vor vier Jahren kein Zufall war“ – und erneut zweimal Gold und einmal Silber geholt.

Mut gehört auf jeden Fall dazu. Aber Angst habe ich nicht, ich nenne es eher Respekt.

Anna Schaffelhuber liebt das Tempo. Mit ihrem Monoskibob erreicht sie bei einer Abfahrt bis zu 130 Stundenkilometer und ist damit nur etwas langsamer als die besten nichtbehinderten Skirennläufer der Welt. Es fasziniert sie, „das Limit bei Abfahrten auszuprobieren“, sagt die Behindertensportlerin des Jahres 2016, die zugibt: „Mut gehört auf jeden Fall dazu.“ Manchmal koste es Überwindung, sich den steilen Hang in ihrem Mono­skibob hinunterzustürzen. „Aber Angst habe ich nicht, ich nenne es eher Respekt.“ Und der sei wichtig, „um eine Strecke richtig einzuschätzen“.

Vertrauenssache Equipment

Wichtig ist dabei das Vertrauen in die Ausrüstung, vor allem in den mit 14 Kilogramm leichtesten Bob im Para-Weltcup, aber auch in den Ski, der unter das Gerät montiert wird. Der Ski muss eine bestimmte Länge sowie einen Mindestradius haben, außerdem gibt es Vorschriften für die Aufbauhöhe der Bindungsplatte. Dies alles wird vor jedem Rennen überprüft. Schaffelhubers Ski hatte übrigens Olympiasiegerin Mikaela Shiffrin vorher als Trainingsski genutzt.

Mindestens genauso viel getüftelt werden muss am Bob. Für Anna Schaffelhuber gibt es nicht das perfekte Gerät, sondern nur „die perfekte Abstimmung“. Seit 2012 fährt sie auf jenem Modell, mit dem sie in Sotschi so erfolgreich war und mit dem sie auch in Pyeongchang gestartet ist. Entwickelt hat den Bob der mehr­fache querschnittgelähmte Paralympics-Sieger Martin Braxenthaler, aber, sagt Anna Schaffelhuber „es hat zwei, drei Jahre gedauert, bis ich gesagt habe, jetzt passt er so perfekt wie ein Schuh.“

Wie wichtig der Bob ist, hat sie 2009 ein halbes Jahr vor ihren ersten Paralympics feststellen müssen. Damals, mit 16, wachte sie eines Morgens auf und konnte nicht mehr wie bis dahin gewohnt mit Krücken gehen. Weshalb die Restfunktion der Beine von heute auf morgen verschwand, war für die Ärzte ein Rätsel. Diese Tatsache mental zu verarbeiten, war eine größere Herausforderung für Anna als die steilsten Pisten. Dazu kam, dass nun ihr Monobob etwas umgebaut werden musste, was zu einem veränderten Fahrgefühl führte, an das sie sich in kurzer Zeit gewöhnen musste.

Anna Schaffelhuber hat es hinbekommen und in Vancouver ihre erste Medaille gewonnen, so wie sie vieles in ihrem Leben mit Optimismus und einer Portion Mut geschafft hat. Die Behinderung ist für sie kein Problem, sie redet nur nicht gerne darüber. „Ich habe eben diese körperlichen Voraussetzungen, so wie andere größer sind oder kleiner. Es geht alles, manche Sachen halt nur ein bisschen anders“, sagt sie. Dabei drückt sie sich mit ihren kräftigen Oberarmen aus dem Monoskibob und schiebt sich mühelos in den danebenstehenden Rollstuhl, um mit schnellen Bewegungen im Skiraum zu verschwinden.

ANNAS MONOSKIBOB

Invidual-Sportgerät für den Einsatz im Skisport

Einzelteile
130
Schalenmaterial
Karbon
Gesamtgewicht

14kg
Ski
handelsüblicher Alpinski bzw. genormter Rennski
Gewicht der Karbonschalen
ca. 2 kg
Spitzengeschwindigkeit
ca. 130 km/h
Herstellungskosten
ca. 14.000 Euro

Maßgeschneidert und teuer wie ein Kleinwagen: Monoskibobs wie das Sportgerät von Anna ­Schaffelhuber sind komplexe Einzelstücke – perfekt auf den behinderten Sportler zugeschnitten. Im Idealfall kompensiert ein solcher Bob genau die fehlenden Fähigkeiten, damit der Sportler seine Stärken optimal auf die Piste bringen kann.