Die 700-Meter-Revolution

Öffentlicher Nahverkehr kann auch sehr spannend sein. Seit Oktober 2017 hat seine Zukunft in Deutschland neu begonnen. In einem kleinen niederbayerischen Kurort ging der erste autonom fahrende Personenbus an den Start – vollelektrisch und vollautomatisiert.

Ein engagiertes Team rund um den Initiator Deutsche Bahn hat mit diesem Projekt trotz aller Herausforderungen nicht nur ein kleines Shuttle ins Rollen gebracht, sondern auch ein erstes Stück unserer künftigen Mobilität.

Revolutionen beginnen oft unscheinbar und leise, zum Beispiel als Regionalbuslinie 7015. Dahinter steckt ein rund fünf Meter langes Gefährt, das an eine Seilbahnkabine erinnert und seit dem 25. Oktober 2017 im 30-Minuten-Takt den Marktplatz des Kurorts Bad Birnbach mit dessen knapp 700 Meter entfernter Rottal Terme verbindet. Wahrlich keine lange Strecke für ein normales Fahrzeug. Aber an dem elektrischen Personenbus EZ10 des Fahrzeugentwicklers EasyMile ist nichts normal: kein Lenkrad, keine Pedale, kein Fahrer, aber dafür jede Menge Elektronik und Software sowie ein aus rechtlichen Gründen mitfahrender Sicherheitsoperator, der notfalls per Knopfdruck und Joystick eingreifen kann.

First slide

Im Linienverkehr von Bad Birnbach sicher unterwegs: der erste autonom ­fahrende Bus in Deutschland auf öffent­lichen Straßen.

Second slide

Der erste autonome Bus im Linienbetrieb ist eine Idee der Deutschen Bahn, die über ihren Geschäftsbereich ioki, kurz für „Input Output Künstliche Intelligenz”, schon heute Antworten auf die Mobilitätsnachfrage von morgen geben will. Die sechs Passagiere merken nichts von der GPS-Überwachung und der miteinander korrespondierenden Technik aus Radarsystemen, Ultraschalldetektoren und Laserfächern. Und sie merken auch nichts von dem geleisteten Aufwand der Projektpartner Deutsche Bahn, TÜV SÜD, dem Landkreis Rottal-­Inn und der Gemeinde Bad Birnbach. Die Gesamtmaßnahme erforderte nicht nur Offenheit für Neues, Leidenschaft und gesteigertes Engagement der vielen ­Mitwirkenden, sondern auch ihren Mut. Ähnlich wie bei der ersten Dampflokfahrt im Jahr 1835, die übrigens auch nur über eine Strecke von 6,2 Kilometer ging. Damals wurde mit der Lok Adler Geschichte geschrieben. Und heute mit dem Bus EZ10 vielleicht auch.

deutsche bahn Sebastian Krieg
Leiter Strategische Ressortprogramme
Mobilität / Leiter Pilotprojekt
Bad Birnbach

Vorreiter beim Praxiseinsatz

Autonomes Fahren wird den Mobilitätsmarkt stark verändern. Und wir von der Deutschen Bahn wollen ganz vorne dabei sein. Besonders in ländlichen Regionen, in denen bezahlbare Mobilität schon immer ein schwieriges Thema war, lassen sich mit autonomen Fahrzeugen völlig neue Angebote realisieren. Sie können Menschen künftig direkt an ihrer Haustür abholen, decken also die sogenannte letzte Meile ab, und machen dadurch den öffentlichen Verkehr deutlich attraktiver. Genau für solche flexiblen, bedarfsgerechten und nahtlosen Mobilitätslösungen haben wir innerhalb der Deutschen Bahn 2017 den Geschäftszweig ioki gegründet. Ziel von ioki ist es, möglichst frühzeitig autonome Technologie in ausgewählten Fällen ganz praktisch für unsere Kunden einzusetzen – wie in Bad Birnbach. Und das trotz aufwendiger Suche nach einem passenden Fahrzeug, denn von einem deutschen ­Hersteller kann man so etwas bislang nicht bekommen. In dem Kurort konnten wir das Projekt mithilfe eines französischen Fahrzeugentwicklers und unserer weiteren Partner dennoch erfolgreich auf die Straße bringen und sind jetzt Vorreiter: mit Deutschlands erster autonom verkehrender Buslinie.

TÜV SÜD
Robert Matawa
Head of Test Autonomous Driving & ADAS

Mutig unbekannte Pfade beschritten

Als der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn, Richard Lutz, am 25. Oktober 2017 in Bad Birnbach feierlich das Band durchschnitt und damit in Deutschland den ersten autonomen Bus in den regulären Linien­betrieb entließ, waren auch mein Team und ich dabei. Der kleine Schnitt bedeutete einen großen Schritt für die Mobilität von morgen. Wir waren stolz, als Sachverständige und Prüfer dazu maßgeblich beigetragen zu haben. Zuvor mussten wir viele neue, unbekannte Pfade beschreiten. Nie zuvor war ein autonom fahrendes Fahrzeug, regulär zugelassen, auf deutschen Straßen unterwegs gewesen. Aussicht auf eine erfolgreiche technische Abnahme bestand nur mit einem besonders zielstrebigen und mutigen Team. Es galt für uns, genaue Kenntnisse der Rechtslage mit modernsten, zum Teil neu ent­wickelten Methoden der forensischen Risikoanalyse sowie ­reellen und ­virtuellen Testmethoden zu verbinden. Außerdem waren wir in einem engen, ­kontinuierlichen Austausch mit den zuständigen Behörden. Die Operation gelang und der Bus dreht seit Oktober seine Runden. Damit symbolisiert auch er auf besondere Weise unseren Leitspruch: Mehr Sicherheit. Mehr Wert.

Marktgemeinde Bad Birnbach
Viktor Gröll
Leiter der Kurverwaltung

Bauliche Anforderungen schnell gemeistert

Als wir von den Plänen der Bahn erfahren haben, haben wir direkt das Gespräch gesucht. Die Vorteile dieses ­Pilotprojekts für die Gemeinde überwogen bei Weitem ­even­tuelle Risiken. Mit dem Bus können wir nach der geplanten ­Streckenerweiterung noch 2018 das bei Kur­gästen und Einheimischen beliebte Ziel Rottal Terme mit dem Bahnhof verbinden, der 1,5 Kilometer vom Ort entfernt liegt. Nicht nur dadurch passt das Projekt perfekt in unser Entwicklungs­konzept. Denn wir wollen uns zum ökologischen Bad entwickeln. Dabei spielt die E-Mobilität eine große Rolle. Und andererseits ist Mobilität generell im ­ländlichen Raum ein großes Thema. In ­unserer Marktgemeinde leben 5.700 Einwohner auf 70 Quadrat­kilometern verteilt in 85 ­verschiedenen Ortsteilen. Öffentlicher Personennahverkehr wird da schnell zur sportlichen Aufgabe. Aber stellen Sie sich vor, der autonome Bus würde eines Tages nicht nur eine, sondern 85 Strecken kennen, und dann fahren, wenn er gerade benötigt wird. Dieses Zukunftspotenzial hat die Kommunalpolitik schnell erkannt und das Vorhaben von Anfang an unterstützt. Unser größtes Problem war eine bau­liche Anforderung. Wir mussten eine Unterführung für den Bus fit machen. Aber das war auch dank der Unter­stützung des Marktrats gleich erledigt.

Landkreis Rottal-Inn
Michael Fahmüller
Landrat
Landkreis Rottal-Inn

Signalwirkung für die Region

Es ist das erste Mal, dass ein autonomes Fahrzeug im öffentlichen Personennahverkehr Passagiere befördert. Dafür haben wir rechtlich und verwaltungstechnisch absolutes Neuland betreten, was beispielsweise das aufwendige Zulassungsverfahren betraf. Dazu war auch Mut erforderlich. Es lohnt sich jedoch, diesen aufzubringen, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Zum einen darf selbstverständlich keine Gefahr für die Passagiere und andere Verkehrsteilnehmer entstehen, was die intensive Zusammenarbeit aller Projektpartner gewährleistet. Zum anderen muss sich dieser Mut auch ­auszahlen, und hier versprechen wir uns vom autonomen Bus eine deutliche Signalwirkung. Gerade bei uns im ländlichen Raum sind viele Menschen noch immer auf das Auto angewiesen. Wenn nun der autonome Bus regelmäßig in Bad Birnbach ­Menschen befördert, setzen wir damit ein deutliches Zeichen für die Flexibilisierung des öffentlichen Personen­nahverkehrs der Zukunft. Ich denke, wir dürfen in diesem Sinne schon etwas stolz sein, zu den Vorreitern bei einem so zukunftsrelevanten Projekt für unsere Region zu gehören.