„Wir werden bald in einer Postwachstumsökonomie leben”
Das Verhältnis von Nachhaltigkeit und Wirtschaft wird künftig neu gedacht werden müssen, sagt der britische Umweltökonom Tim Jackson. Im Interview erläutert er seine Vorstellung einer Wirtschaft ohne Wachstum und erklärt, was diese für Unternehmen bedeutet.
Professor Tim Jackson ist Umweltökonom und Direktor des Centre for the Understanding of Sustainable Prosperity (CUSP) an der Universität Surrey in Großbritannien.
Das CUSP ist ein interdisziplinäres Forschungszentrum, das zu den ökonomischen, sozialen und politischen Dimensionen von nachhaltigem Wohlstand forscht.
2009 veröffentlichte er sein kontroverses und viel beachtetes Buch „Wohlstand ohne Wachstum“, das in 17 Sprachen übersetzt wurde.
Professor Jackson, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung seit Jahrzehnten mit dem Verhältnis von Nachhaltigkeit und Wirtschaft. Was verstehen Sie unter dem Begriff Postwachstumsökonomie?
Jackson Die Postwachstumsökonomie beschäftigt sich mit der Frage, was passieren könnte, wenn das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts als primäre Kennzahl für Erfolg abgelöst würde. Der Hauptgrund dafür ist – neben ökologischen und gesellschaftlichen Gründen – dass Ökonomen und Politiker zunehmend von geringeren Wachstumsraten ausgehen. Diese Entwicklung lässt sich nicht erst seit der Finanzkrise beobachten, sondern zeigt sich bereits seit ungefähr 50 Jahren. Betrugen die Wachstumsraten in den hoch entwickelten Volkswirtschaften in den 1960er und 1970er Jahren noch vier bis fünf Prozent jährlich, so liegen sie aktuell in allen OECD-Staaten bei nur noch etwa einem Prozent. Dieser Trend zeichnete sich schon vor der Pandemie ab und lässt darauf schließen, dass wir – ob uns das nun gefällt oder nicht – auf dem Weg in eine Postwachstumsökonomie sind. Vielleicht leben wir bereits in einer. Für mich bedeutet dies, dass wir eine Wirtschaftslehre brauchen, die die Idee ernst nimmt, dass Wohlstand letzten Endes mehr ist als nur Wachstum. Denn bei Wohlstand geht es auch um Gesundheit, um Beziehungen und die Gemeinschaft sowie darum, einen Sinn im Leben zu haben.
Sie sind der Verfasser der wachstumskritischen Besteller „Wohlstand ohne Wachstum“ und „Post Growth“. Was entgegnen Sie Kritikern, die behaupten, globalen Bedrohungen wie die Bankenkrise 2008 oder die Corona-Pandemie könnten nur mit Wachstum bewältigt werden?
Jackson Ich würde sagen, dass unsere Schwierigkeiten im Umgang mit diesen Krisen zumindest teilweise vom Primat des Wirtschaftswachstums herrühren. Die Finanzkrise kann meiner Meinung nach als eine direkte Folge unserer Besessenheit vom Wirtschaftswachstum gesehen werden. Diese hat uns dazu verleitet, das Finanzsystem zu deregulieren und damit letztendlich zu destabilisieren. Der Zusammenbruch des Finanzsektors in der Bankenkrise ist in gewissem Sinne zu gleichen Teilen auf unser Streben nach Wachstum zurückzuführen und unser Scheitern, genau dieses Wachstum zu erzielen. Wenn ich mit dieser Vermutung richtig liege, dann bedeutet dies, dass wir in globalen Krisen künftig viel differenzierter vorgehen müssen. Wir müssen verstehen, wo die Ursachen einer Krise liegen und welche Art von Aufschwung notwendig ist. Unsere Antwort auf die Finanzkrise bestand aus rigiden Sparmaßnahmen und einer schädlichen Austeritätspolitik, die unser Sozialsystem aushöhlte. Bei Ausbruch der Pandemie war unser britisches Gesundheitssystem dann durch ein Jahrzehnt der Unterfinanzierung geschwächt. Die Pandemie war ganz klar eine Ausnahmesituation. Um die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen, stellten wir einen großen Teil unserer wirtschaftlichen Aktivitäten von einem Tag auf den anderen ein. Wir haben die Gesundheit über den Wohlstand gestellt und das war zu diesem Zeitpunkt die richtige Entscheidung. Wollen wir unsere Wirtschaftstätigkeit zumindest teilweise wiederherstellen? Ja! Natürlich wollen wir das, denn davon hängt die Lebensgrundlage der Menschen ab. Genauso gilt, dass man in den ärmsten Ländern der Welt die Konjunktur nach wie vor ankurbeln muss, um die Lebensqualität der Menschen dort zu verbessern. Das, was ich als Postwachstumsökonomie bezeichne, schließt dies ja auch nicht aus. In Abrede gestellt wird lediglich, dass alle Probleme einzig und allein durch möglichst schnelles Wachstum zu lösen sind. Das einfache Mantra „Wirtschaftswachstum um jeden Preis“ bietet eben manchmal keine Lösung. Unser obsessives Wachstumsstreben erklärt auch unsere Fixierung auf Produktivität. Wir müssen beginnen, differenzierter darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist. In einem ersten Schritt können wir zu diesem Zweck einen breiter gefassten Wohlstandsbegriff entwickeln, bei dem die wichtigsten Wirtschaftstätigkeiten nicht dem Streben nach abstraktem Wachstum gelten, sondern auf genau das bauen, was unserem Leben Wert und Sinn verleiht: Achtsamkeit, handwerkliches Können und Kreativität.
Warum ist eine nachhaltige Unternehmensführung für viele Unternehmen sinnvoll, selbst wenn die Unternehmen permanent unter Druck stehen, Gewinne erwirtschaften und wirtschaftlich handeln müssen?
Jackson Die Art und Weise der Unternehmensorganisation führt dazu, dass sich die Unternehmen in einem Spannungsfeld zwischen Gewinnstreben und Nachhaltigkeitszielen bewegen. Der Grund hierfür ist, dass die Umsatzerlöse eines Unternehmens drei miteinander konkurrierende Ansprüche erfüllen müssen: die Bezahlung der Löhne und Gehälter, Dividenden für die Aktionäre und Investitionen, um den künftigen wirtschaftlichen Erfolg zu sichern oder Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Bei den in unserem Wirtschaftsmodell gängigsten Unternehmensformen stehen diese Ansprüche im Widerspruch zueinander und diesen Konflikt muss man sich bewusst machen. Das ist sehr wichtig! Wir müssen das Diktat der Friedman-Doktrin mit dem griffigen Slogan „The Business of Business is Business“ durchbrechen und dürfen nicht länger davon ausgehen, dass Gewinn der einzige Indikator für den Erfolg eines Unternehmens ist. Wir haben es ja schließlich selbst erlebt, dass dies zur Katastrophe führen kann. Auch in der Gesellschaft werden zunehmend Stimmen laut, die fordern, dass Unternehmen ihre Nachhaltigkeit stets ganz genau im Blick haben müssen. In Bezug auf den Klimawandel beispielsweise freunden sich erste Unternehmen – ganz zu Recht – mit dem Gedanken an, dass sie sich mit dem Wandel hin zu einem Netto-Null-Unternehmen auseinandersetzen müssen. Nachhaltigkeit und der Wandel hin zu einem Net-Zero-Unternehmen dienen heute nicht mehr nur dem Aufbau eines sozialen und umweltfreundlichen Markenimage, sondern entscheiden, ob ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt bestehen wird.
Was wird von Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit künftig erwartet und wie sollten sie handeln?
Jackson Die wichtigste Lektion für ein Unternehmen von heute ist meines Erachtens, dass eine Zukunftsvision, die auf Nachhaltigkeit setzt, nicht nur einen Wettbewerbsvorteil darstellt, sondern das ganze Unternehmen positiv beeinflusst. Unternehmen, die beim Thema Nachhaltigkeit hinterherhinken, riskieren ihre gesellschaftliche Akzeptanz. Mit anderen Worten, das Thema Nachhaltigkeit auf die leichte Schulter zu nehmen, kann für ein Unternehmen ein erhebliches Risiko darstellen. Zukunftsorientierte Unternehmen sollten daher sowohl die Vision eines nachhaltigen Unternehmens als auch nachhaltige Managementpraktiken verinnerlichen.
Welche Rolle spielt die Wirtschaft in Ihrer Welt, in der Gleichgewicht und nicht Wachstum wesentlich für den Wohlstand ist?
Jackson Eine Welt, in der die Wirtschaft auf ständiges Wachstum ausgerichtet ist, steuert irgendwann auf eine Katastrophe zu. Dies gilt besonders dann, wenn wir uns bewusst machen, dass Gesundheit und Wohlergehen der Menschen eher von einer Art harmonischen Gleichgewicht abhängen als von Wachstum. Die Spannung liegt also darin, dass die Wirtschaft auf ein unaufhaltsames Wachstum abzielt, während andererseits die menschliche Gesundheit und der menschliche Körper in Balance bleiben müssen. Der Gleichgewichtsbegriff sollte daher den Rahmen für unsere Vorstellung von Fortschritt abstecken. Was bedeutet dies nun aber konkret für Unternehmen? In erster Linie vielleicht, dass sie Grenzen festlegen müssen. Wir wissen zwar, beispielsweise im Bereich des Klimaschutzes, wo einige dieser Grenzen liegen, aber wir integrieren sie noch nicht entsprechend in die Politik und die geltenden Richtlinien. Dabei ist die Festlegung von Grenzen wichtig, um sagen zu können, wie sich die Wirtschaft ohne diese krankhafte Dynamik entwickeln wird. Ein zweiter Lösungsansatz beschäftigt sich damit, unser Wirtschaftssystem sozusagen „in Ordnung“ zu bringen. Dabei geht es um die Gestaltung der Wirtschaft selbst und um Institutionen, die nachhaltige Interessen stärken. Dies wird in einigen Bereichen sehr klare Auswirkungen auf die Wirtschaft haben, zum Beispiel darauf, wie man Investitionen strategisch plant, wie man die Investitionsleistung ermittelt und wie man Investitionen schwerpunktmäßig auf nachhaltige Ziele im Produktionssektor verlagert. Im dritten Lösungsansatz schließlich geht es um die Veränderung des gesellschaftlichen Denkens. Der Mensch als Verbraucher ist in bestimmten Verhaltensmustern gefangen. Wer nach Wachstum strebt, braucht Menschen, die auch künftig immer mehr kaufen. Wir leben in einem System, das darauf ausgerichtet ist, den Konsum anzukurbeln und zu stimulieren. In Anbetracht dessen müssen wir einen Gang zurückschalten und unseren Konsum systematisch drosseln, um unsere Balance wiederzufinden. Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie die Massenproduktion und den Konsum materieller Produkte hinter sich lassen müssen. Sie müssen ihre Wertschöpfung auf Qualität und auf Dienstleistungen konzentrieren, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen.