Dieser junge Mann fällt auf. Neil Harbisson hat sich einen neuen Sinn designen lassen – und jeder sieht es. Denn Harbisson ist eine ungewöhnliche Partnerschaft zwischen seinem Körper und digitaler Technologie eingegangen. Wir trafen den Cyborg in seiner Wahlheimat Katalonien.

Neil Harbisson erscheint pünktlich zu unserem Treffen an diesem Nachmittag in Barcelona. Er hatte es nicht weit von seinem Wohnbezirk El Raval. Schon aus einiger Entfernung kann ich ihn an der Metro-Station Liceu mitten auf den Ramblas stehen sehen. Und das liegt nicht nur an dem Blondschopf und seinem leuchtend blauen Steppanorak. Die dünne biegsame Antenne, die quasi aus seinem Hinterkopf zu wachsen scheint, lässt auch mich kurz stutzen. Dass Harbisson auffällt, bleibt nicht aus. Doch eigentlich möchte er das gar nicht. Der 34-jährige Brite sieht sich vielmehr auf einer Mission, mehr allgemeine Aufmerksamkeit für Cyborgs und die Anerkennung von künstlich designten Sinnen bei Menschen zu erreichen.

Bei einem kurzen Streifzug durch die Stadt in Richtung Plaça de Catalunya beginnt Harbisson zu erzählen, wie er zu dem wurde, was er heute ist: ein Mensch-Maschine-Mischwesen und Avantgarde-Künstler, der eine ganz besondere unmittelbare Partnerschaft zwischen Mensch und Technik lebt. „Ich bin von Geburt an farbenblind. Das habe ich zwar nie als Behinderung empfunden, aber ich war schon als Kind neugierig auf die Farben, die mich umgaben. 2004 habe ich mir dann eine Antenne in den Kopf implantieren lassen, die es mir ermöglicht, die Farben der Umgebung in Töne umzuwandeln. Ich kann also Farben hören, so wie das Rot und Grün dieser Blumen bei dem Händler da.“

„Die Verbindung zwischen meinem Körper und der Technik funktioniert jetzt seit mehr als 15 Jahren sehr gut. Die Antenne ist deshalb für mich längst kein Gerät mehr, sondern ein Organ.“

Neil Harbisson,
Cyborg-Aktivist & Avantgarde-Künstler

Seine Antenne nimmt die Lichtwellen der Farben auf und sendet sie als Schwingungen an den Schädelknochen. Die Schwingungen werden zu inneren Lauten. So hört Neal verschiedene Noten für verschiedene Farben. Um die Klänge für sich zu visualisieren, hat er sich vor der Implantation für jede Tonhöhe eine Farbe eingeprägt. „Das Rot der Blume klang für mich gerade übrigens sehr tief. Die Verbindung zwischen meinem Körper und der Technik funktioniert jetzt seit mehr als 15 Jahren sehr gut. Die Antenne ist deshalb für mich längst kein Gerät mehr, sondern ein Organ.“

An der Plaça de Catalunya angekommen, muss Harbisson noch kurz etwas besorgen. Er steuert zielsicher auf das berühmte Kaufhaus El Corte Inglés direkt am Platz zu, und ich verstehe schnell, warum. Ein Lächeln zieht über sein Gesicht, als wir das Basement mit seinen Mode- und Parfümartikeln in allen Farben betreten. „Ich gehe gerne hierher. Das ist für mich wie für andere Menschen der Besuch eines Nachtclubs. Eine volle Ladung spannender Klanglandschaften.“ Harbisson taucht in dieses Klangspektrum ein und vergisst darüber fast seinen Einkauf. Denn Reizüberflutung kennt er nicht. Er hat sich längst an die vielen Informationen gewöhnt, die die Antenne überträgt – Tag und Nacht, beim Duschen und beim Schlafen.

CYBORG ALS LEBENSSTIL

Wir wollen unser Gespräch in einer Bar fortzusetzen. Neal führt mich in das gemütliche Lokal L’Ovella Negra Ramblas im Altstadtbezirk El Raval ganz in der Nähe. Bei einem Gläschen Wein und einem Teller Tapas erklärt er, dass es ihm um viel mehr als nur das eigene Cyborg-Dasein geht. Er will mehr Menschen zu diesem Lebensstil ermutigen. „Deshalb habe ich die Stiftung Cyborg Foundation und den Verein Transpecies Society mitgegründet, die mehr Menschen zum Cyborg-Dasein ermutigen sollen. Denn mein Anliegen ist nicht nur eine enge Partnerschaft zwischen Mensch und Technologie, sondern auch mit anderen Gleichgesinnten.“

Neben dem Einsatz für die Anerkennung von Cyborgs sieht sich Neal vor allem als Künstler mit seinem Körper als Hauptwerk. Aber er schafft auch selbst Kunstwerke, indem er zum Beispiel die Musik berühmter Musiktitel als „Color Scores“ in Farben umsetzt.
 

Er erzählt, dass bei seinem nächsten Projekt wieder der eigene Körper im Fokus steht. Er will sich ein weiteres künstliches Organ einsetzen lassen, mit dem er die Zeit fühlen kann. Dafür ist jetzt auch in der Realität Zeit, denn heute ist noch ein Entwicklertreffen geplant. Harbisson lächelt zum Abschied: „Das ist das Gute am Cyborg-Dasein. Im Gegensatz zu meinen traditionellen Sinnen können meine neuen Sinne im Alter immer besser werden, weil sich die Technik ständig weiterentwickelt.“ Während ich ihm gedankenverloren nachschaue, frage ich mich: Sieht so der Mensch der Zukunft aus?

„Amy Winehouse – Rehab“ als Kunstwerk: So „hört“ Harbisson den Hit mit seiner Antenne.

NEIL HARBISSON

Geboren
27. Juli 1984
Belfast, Nordirland

Aufgewachsen
Katalonien

Beruf
Cyborg-Aktivist und
Avantgarde-Künstler

Besonderheiten
– Von Geburt an farbenblind
– Seit 2004 erster Mensch weltweit mit einer Antenne im Schädel, mit der sich Farben hören lassen
– Seit 2004 offizielle Anerkennung als erster Cyborg durch die britische Regierung.